Warum anatomische Studien?

Perry

Senior Mitglied
Moin Moin,

worin besteht der Sinn anatomischer Studien bei denen die Muskulatur so extrem ausgearbeitet wird. Reicht es nicht einfach, die Person in der Geste/Haltung zu zeichnen? Warum wird jeder Muskel abgebildet, wenn später doch eine bekleidete Person gemalt wird?

LG
Perry
 

Inge

SUPERVISOR
Uff, da gibt es gleich eine Reihe von Gründen.
Hier mal einige, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit:

- Wenn ich beispielsweise ein mit durchscheinendem oder fließendem Stoff bekleidetes Mädel malen möchte, macht es großen Sinn, das Mädchen erst nackt zu malen und es dann erst malerisch anzuziehen. So folgt der Fall des Materials wunderbar der menschlichen Anatomie und der Bildbetrachter sieht den MENSCHEN, nicht das Kleidungsstück. Andersherum: Wenn du die Beine bis zum Rockansatz malst und dann mit der Anatomie aufhörst, malst du die KLEIDUNG und nicht den Menschen. Und leider kommt das dann meist auf den Bildern auch so rüber.

Grund 2: Wenn man diese Studien betreibt, lernt man das Zusammenspiel von Knochen und Muskeln, von Standbein und Spielbein und kann mit kleinsten Veränderungen andere Gesten, andere Stimmung und andere Situation darstellen.
Wie verändert sich das Auge, wenn jemand statt wütend flirtend schaut? Wie verändert sich die Hand, wenn sie verkrampft? Wie verändert sich der Hals, wenn eine Person sich sinnlich zurücklehnt?

Der Körper spricht eine Sprache - und mit anatomischen Studien lernt man, diese Sprache nicht nur zu verstehen (das tun praktisch alle Menschen intuitiv), sondern bewusst in ihren Nuancen zu erkennen und darzustellen.

Das alles ist unabhängig vom Sujet: Thomas hat mal einen Grabengel malen wollen, der als Stein ist, aber leichte Kleidung in Stein gemeißelt darstellt. Wenn ich den malen würde, würde ich den Engel erst nackt konstruieren, dann fällt es viel leichter, Kleiderfaltung plausibel drüberzulegen.

Als nächstes Motiv für anatomische Studien steht das Richtig-Sehen-Lernen: Da der menschliche Körper eines der Objekte ist, das Menschen am meisten sehen, erkennen auch zeichnerische Laien, wenn "etwas nicht stimmt" an der Darstellung, können aber meist nicht genau den Finger drauf legen, was. Um diese Lücke zu füllen, heißt es dann üben, üben, üben.

Was du so schön locker als "....reicht es nicht einfach, die Person in der Geste/Haltung zu zeichnen?" beschreibst, dürfte für einen Untrainierten echt schwierig sein, wenn er das nicht schon x-mal durch Studie geübt hat. Denn Was meinst du, wieviel Hände ich gezeichnet habe, bis ich ohne Vorlage die Phasen des Greifens nach einem Gegenstand zeichnen konnte? Das wäre ohne diese Studien nie gegangen. Und wenn ich nicht auf ewig nur photographisch schon vorhandene Situationen wiederholen mag, sondern "mein Ding" machen und mein Bild selber zusammenbauen, wird mir nichts anderes übrig bleiben, als die Grundlagen zu schaffen - und zu erhalten.
 
Zuletzt bearbeitet:

Perry

Senior Mitglied
Hi Inge,

vielen Dank für die ausührliche Antwort. Du hast natürlich recht.

Ich dachte auch eher an so etwas. Wo der Rubens eben nicht nur die Muskeln und die Haltung/Geste studiert hat, sondern auch die Muskeln in deren Faserartiger Struktur dargestellt hat.

Das ist selbst bei trainierten Sportlern nur sehr selten so zu erkennen. Tatsächlich spielen Muskeln im Werk von Rubens ein große Rolle. Und dennoch stellt er diese im Bild eben nicht so extrem dar, wie in der Studie.

Edith:
Dem Sinn dieser Studie hier verstehe ich eher in Deinem Sinne. Die Psyche hier ist auch ein Beispiel für meine Idee einer Studie von Geste/Haltung. Die anatomische Studie eben (noch) nicht.


LG
Perry
 
K

karlwei

Gast
... wie die meisten Künstler zur damaligen Zeit orientierten sich auch die Holländer an den Gemälden in Italien, besonderer diese in der Renaissance.
Die Bildende Kunst damals wiederum wurde sehr von den Bildhauern beeinflusst und diese mussten solche Anatomischen Studien machen, denn beim Bildhauer ist es sehr wichtig den Verlauf der einzelnen Muskeln zu kennen.
Rubens hat sich sehr an Michelangelo orientiert, daher diese Zeichnungen, wobei man als Bildender Künstler ja nicht unbedingt wissen muss wie die einzelnen Muskelstränge verlaufen, allerdings schadet es auch nicht.
Zuerst den Menschen nackt zeichnen und dann das Gewand darüber, stimmt schon aber dabei zeichnet man nicht die einzelnen Muskeln sonder schaut mehr auf Umrisse und wo die Schatten liegen - so habe ich das gelernt, andere sehen das wieder anders - jeder soll es so mache wie es führ ihn am besten ist.
LG Karl
 

Bree

Senior Mitglied
Auch wenn ich hier Sachen wiederhole, ich für meinen Teil, finde es wichtig, weil die Kleidung auch oft eng am Körper liegt.
Wenn man weiß wo was ist, wie etwas dargestellt werden muss, kann man
auch selbst einen Körperhaltung kreieren, ohne Vorlage.
 

Inge

SUPERVISOR
Vermutlich liegt das Ganze auch noch an zwei anderen Gründen:

- Sezieren war ja verboten und wenn sich mal die Gelegenheit für Künstler ergab, Muskelstrukturen festzuhalten um später bei Bedarf für zwei- oder dreidimensionale Wiedergabe darauf zurückzugreifen, dann tat man das natürlich.

- Da es ja nicht wie jetzt Reihenfotos bzw. Momentaufnahmen von irgendwelchen Handlungen in jeder Phase gab, musste man für die Konstruktion bestimmter Haltungen (Schlachtenszenen etc.) die Mechanik des Körpers ganz genau kennen.

Mit dem Wissen, wo die Muskelstränge sein müssten (auch wenn am Objekt nicht sichtbar) kann man das Bild schön modellieren. Ich finde, gerade den Bildern von Rubens sieht man stark an, dass er sozusagen Haut über gemalte Muskulatur gelegt hat - und da das so praktisch nicht mehr gemacht wird, übt es natürlich eine große Faszination aus.
 
K

karlwei

Gast
ich glaube es kommt immer auf die Art der Darstellung an die man wählt, so wäre es sicher nicht hilfreich gewesen bei meinen Madonnen Bild

http://www.happypainting.de/showthread.php?t=44175

zuerst den Torso zu zeichnen und anschließend die Gewänder - bei so vielen Falten wäre das für mich verschwendetet Zeit gewesen - bei anderen Bildern kann es wiederum Hilfreich sein zuerst den Körper zu zeichnen und das Gewand darüber zu legen.
Leonardo hat an toten Körpern von Strafgefangenen seine Anatomischen Zeichnungen gemacht, Rembrandt - die Anatomie des Dr. Tulp usw., es gibt viele Beispiele von Anatomischen Zeichnungen, von der Antike bis zur jetzt Zeit - irgendwelche Leichen gab es immer, auch wenn es teilweise verboten wahr, der Menschliche Forscherdrang(Neugierde) lässt sich nicht unterdrücken - Gott sei Dank !
LG Karl
 

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